Gleich in den ersten Tagen wühlte ich mich durch die engen Basarstraßen der Altstadt bis in die Grabeskirche. Angeblich der heiligste Ort der Christenheit – und dann dies! Sechs Konfessionen streiten um Platz für Prozessionen oder um die Länge und Lautstärke ihrer Gebetszeiten. Hier soll Jesus ans Kreuz genagelt worden sein - dort soll der Stein liegen, auf dem sein Leichnam gesalbt wurde. Jede Konfession ist stolz auf ihre ganz besonderen heiligen Quadratmeter. Mir fehlte der Verständnisschlüssel zu diesem Wirrwarr.
Jahr für Jahr feiern Katholiken, Anglikaner und Orthodoxe auf der ganzen Welt im September ein Fest, das sie mit diesem Ort verbindet: das Fest Kreuzerhöhung. Es erinnert an die Einweihung der Grabeskirche im Jahr 335. Der römische Kaiser Konstantin ließ an der Stelle, wo sich der Überlieferung nach das Grab Jesu befand, eine riesige Kirche bauen. Mit ihr demonstrierte er seine Macht und inszenierte sich als Förderer des Christentums. Sie wurde zum zentralen Pilgerziel in seinem Reich. Bei ihrer Einweihung zeigte man den Gottesdienstbesuchern das Kreuz, das die Kaiserinmutter Helena gefunden haben soll. Es wurde dabei zur Verehrung hochgehoben – daher der Name „Kreuzerhöhung“.
Irgendwie ist für mich bei diesem Projekt Grabeskirche von Anfang an „der Wurm drin“. Konstantins Religionspolitik lässt heute viele Fragen. Wer weiß, vielleicht sollte es so kommen, dass von dem Monumentalbau aus dem vierten Jahrhundert nur noch ein Rest steht? Womöglich ist das Fest Kreuzerhöhung ein Anstoß, über Konstantin hinauszudenken, was das Thema Religion und Macht heute angeht? Und vielleicht hat es sogar einen Sinn, dass die Grabeskirche keine formvollendete Kathedrale ist, bei der einem gleich das Herz aufgeht und wo man sich unmittelbar spirituell zu Hause fühlt? Diese Kirche kann verstören, durchkreuzen – und das ist gut so. Sie hält die Wunde offen, dass die Spaltung der Christenheit ein riesiger Skandal ist, der zum Himmel schreit!
Nach vielen Besuchen habe ich mich mit dieser verrückten Kirche angefreundet. Ich habe meine Lieblingsecken – zum Beispiel das äthiopische Kloster auf dem Dach. Eine Gebetsschnur, die den Boden berührt hat, auf dem das Kreuz stand, habe ich nicht gekauft. Das Fest Kreuzerhöhung (14. September) erinnert mich heute nicht nur an zwei atemberaubende Semester in Jerusalem. Es macht mich gelassen, was heilige Stätten angeht: Sie sind wertvolle Hinweise, aber nicht das Letzte. Das Eigentliche können wir nicht machen!
Dr. Hildegard Gosebrink