Kein Einzelfall: Immer wieder stößt man beim Wandern auf solche Gedenkstätten. Da prallen Förster und Wilderer aufeinander, verfeindete Brüder trachten sich nach dem Leben, ein heimkehrender Soldat wird wenige Meter vor seinem Zuhause erschlagen, eine böse Äbtissin hält Geiseln im Klosterkeller gefangen, ... Legende und tatsächliche Begebenheit mögen sich manches Mal vermischen, aber es ist nicht zu verleugnen: Immer schon, immer wieder sind auch in der idyllischen Landschaft um uns herum furchtbare Dinge geschehen, haben Menschen durch andere Gewalt erlitten und den Tod gefunden.
Manchmal mag ich daran gar nicht erinnert werden, wenn ich einfach nur die Natur und die schöne Aussicht genießen mag. Aber diese Gedenkssteine, Bildstöcke und Kapellen erinnern mich daran, dass Streit und Gewalt ein Teil der Wirklichkeit sind, auch in der Gegenwart. Es macht mich nachdenklich, warum es offenbar wichtig war, an solche "bösen Taten" zu erinnern, gerade wenn der Täter nie bekannt oder gefasst wurde. Wer sich an die Opfer von Gewalt und Krieg erinnert, klagt öffentlich das Unrecht an und fordert Gerechtigkeit ein. Auch, wenn mancher Mörder vielleicht davon gekommen ist; auch, wenn manche Bluttat vielleicht tragische Hintergründe hat und die Schuld nicht so einfach einer Seite zuzuschreiben ist - die Erinnerung hält in uns den Wunsch wach, dass es irgendeine Form von Gerechtigkeit gibt, dass niemand ungestraft Böses tun darf, dass den Gewaltmenschen das Handwerk gelegt wird. Damals wie heute!
Und wenn ich vor einem solchen Erinnerungsort stehen bleibe, wird mir auch bewusst, wie gefährdet und zerbrechlich mein eigenes Leben ist. Von Wilderern und bösen Äbtissinnen droht mir freilich keine Gefahr mehr, aber Gier und Gewalt sind beileibe nicht aus der Welt verschwunden; und eine kurze Fahrt auf der A 3 ist möglicherweise riskanter als früher die Durchquerung des Spessarts! "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?", so hat schon in biblischer Zeit ein Mensch seine Besorgnis vor einer Reise formuliert. Seine Antwort macht auch mir Mut: "Meine Hilfe kommt von GOTT, er lässt meinen Fuß nicht wanken, er, der mich behütet, schläft nicht." (Ps 121)
Also bin ich dankbar, dass die die Aussicht und mein Picknick an dem schönen Platz vor der Kapelle genießen darf, und überhaupt so viele gute Augenblicke; dass ich bisher verschont und bewahrt geblieben bin vor schlimmerem Unheil - selbstverständlich ist das nicht. Aber ich vertraue darauf, dass GOTT nicht schläft, sondern auf uns schaut und uns behütet, immer wieder, jeden Tag. Vielleicht wäre das ja auch einmal einen Gedenkstein wert?
Dr. Ursula Silber