Da im Schulhaus nur noch drei Klassen untergebracht sind, besteht die Gruppe der evangelischen Kinder aus drei Jahrgangsstufen, nämlich der ers-ten, zweiten und vierten Klasse. Eine bunte Mischung, die sich zweimal in der Woche mit Ihrer Religionslehrerin trifft. Die Studentin durfte nun während Ihres Praktikums ihre eigene Religionsstunde gestalten. Die Schülerinnen und Schüler hingen ihr an den Lippen. Plötzlich schrie sie laut, wie es Bartimäus tat: Jesus, hilf mir! Einige zuckten zusammen. Und dann noch einmal: Jesus, hilf mir.
Eine wunderbare Geschichte. Das Wunder, das hier geschieht, ist nur auf den ersten Blick die Heilung: Ein Blinder kann wieder sehen. Ist Jesus etwa ein antiker Magier? Das wahrhafte Wunder ist der Satz, den Jesus zu Bartimäus sagt:
Dein Glaube hat dir geholfen.
Nicht Jesus als großer Wunderheiler steht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern die Kraft des Glaubens von einem Blinden, einem Gehandikapten, wie wir heute sagen würden. Diese Glaubenskraft ist eine Form von Phantasie. Ein Mensch kann sich vorstellen, dass es für ihn noch etwas anderes gibt als Tag für Tag sich mit einem Leben als Bettler zufrieden zu geben. In der Begegnung mit Jesus wurde seine Phantasie lebendig. Sie hat eine Richtung bekommen und so geht er sogar mit Jesus mit. Er gehört nun zum Kreis der Jesusanhänger.
Selbstverständlich helfen Glaube und Phantasie nicht in Situationen, in denen ich eine Prü-fung zu bestehen habe und mich ungenügend vorbereiten konnte oder wollte. Das wäre dann wieder Magie und Zauberei. Und sie helfen auch nicht, wenn ich in einer Beziehung in der Partnerschaft immer wieder in Streit gerate oder wieder und wieder das Gefühl entsteht: Du enttäuschst mich. Ja, der Glaube kann sogar missverstanden werden und als Ausrede dienen, damit ich unangenehme Dinge nicht in Angriff nehmen muss. Vor allem Traurigkeit und de-pressive Störungen müssen ärztlich sorgfältig diagnostiziert und behandelt werden. Nicht nach dem Motto: Du glaubst doch an Gott, da musst Du doch glücklich sein.
Die Phantasie des Glaubens ist eher so etwas wie Offenheit und Vorstellungsvermögen zur Überwindung von zu engen Grenzen und phantasielosem Dahinleben. Halte mal inne. Was willst du und was willst du nicht? Welche Möglichkeiten sind dir geschenkt? Welche Handi-kaps kannst du dir eingestehen ohne gleich verzweifeln zu müssen?
Die Phantasie des Glaubens gibt eine Zielrichtung an, auf die wir uns verlassen können.
Iris Kreile